„Indem wir Dinge bei ihrem wahren Namen nennen, durchbrechen wir die Lügen, mit denen Untätigkeit, Gleichgültigkeit oder Weltfremdheit entschuldigt, abgeschwächt, vertuscht, verdeckt oder umgegangen werden oder der sie befördern“, schreibt Rebecca Solnit im Vorwort ihres Essaybandes „Die Dinge beim Namen nennen“. Tatsächlich reflektiert sie in den 20 Essays aus den Jahren 2006 bis 2018 immer wieder Namen, Bezeichnungen und Narrative, die zu den Themen gehören – und plädiert dafür, die ‚Geschichte zu brechen‘ – to break the story. Und zwar nicht im Sinne, als erstes über etwas zu schreiben oder zu sprechen, sondern tatsächlich die verbreiteten Erzählweisen zu hinterfragen. Dabei räumt sie auch gleich mit Vorurteil auf, es gebe objektiven Journalismus, indem sie Ben Bagdikian zitiert, den Journalisten, dem Daniel Ellsberg damals die Pentagon-Papers anvertraute: „Objektiv können Sie nicht sein, fair aber schon“, hat er damals seinen Studierenden erklärt. Solnit ergänzt: „Objektivität ist die Fiktion eines neutralen Beobachterstandpunkts – als gäbe es ein solches politisches Niemandsland, in dem man sich zusammen mit den Mainstream-Medien ganz entspannt aufhalten kann. (…) Wir neigen dazu, Menschen am politischen Rand als Ideologien zu behandeln und die in der politischen Mitte neutral zu finden – als ob die Entscheidung, kein Auto zu haben, eine politische wäre, die, eines zu besitzen, aber nicht: (…) Das Apolitische gibt es nicht, es gibt keine Unbeteiligtheit und keinen neutralen Boden; wir alle sind aktiv verstrickt.“
Aktivismus ist eines ihrer wiederkehrenden Themen: für Klimaschutz, gegen Donald Trump, gegen Rassismus und Sexismus. Pointiert und überzeugend arbeitet sie die Verbindungen des politischen Aktivismus von den Suffragetten in England über Gandhi, Luther King und die Anti-Atomkraftbewegung bis zu #BlackLivesMatter heraus. Ihre Haltung ist klar, auch sie ist zornig über die Gegenwart in den USA, zugleich aber auch voller Hoffnung. Denn die Menschen in den USA haben sich angesichts der politischen Lage nicht ins Private zurückgezogen, sie haben nicht gesagt, dass sie „Konsument*innen und keine Bürger*innen“ sind, sondern sie protestieren. „Ich bin nicht überzeugt, dass wir gewinnen werden, aber ich bin froh, dass wir wenigstens kämpfen“. Und sie ist noch überzeugt, dass die Menschen das Ruder herumreißen können, dass sie die Welt verändern können.
Diese Hoffnung ist bei Rebecca Solnit bei allem Zorn präsent, es ist keine naive, blinde Hoffnung, vielmehr die durch die Geschichte genährte Überzeugung, dass man manchmal zwar nicht unmittelbar sieht, was verändert wurde, langfristig aber der Keim für Veränderung gelegt wurde. Es passiert mir selten, dass ich nach der Lektüre von Essays über die Gegenwart tatsächlich gut gelaunt und voller Kraft bin. Rebecca Solnit aber ist das gelungen.
Rebecca Solnit: Die Dinge beim Namen nennen. Übersetzt von Bettina Münch und Kirsten Riesselmann. Hoffman und Campe 2019.