Bereits vor einigen Wochen habe ich in einer Pressevorführung Stephen Frys Film „Philomena“ gesehen, der mir nicht nur wegen Hauptdarstellerin Judi Dench, sondern vor allem aufgrund des Drehbuchs gut gefallen hat: Steve Coogan und Jeff Pope ist es nämlich gelungen, die wahre Geschichte einer jungen Frau, die ungewollt schwanger wird und aufgrund der schmutzigen Aktivitäten der katholischen Kirche in Irland ihr Kind verliert, ohne falsche Melodramatik und Kitsch zu erzählen. Ihr Drehbuch basiert auf dem Buch des Journalisten Martin Sixsmith (im Film gespielt von Steve Coogan), deshalb habe ich mich sehr gefreut, als mir der Ullstein Verlag ein Rezensionsexemplar des Buches geschickt hat.
Über Martin Sixsmith’ Buch
Schon das Cover erinnert an den Film, das wenig aussagekräftige Vorwort stammt von Dame Judi Dench und auch der Titel „Philomena. Eine Mutter sucht ihren Sohn“ passt auf den ersten Blick zu der Geschichte, die ich im Film gesehen hatte. Schnell zeigt sich jedoch, dass Martin Sixsmith aus einer anderen Perspektive auf die Ereignisse blickt. Schon im ersten Teil wird die politische Dimension der Adoptionspraxis der katholischen Kirche deutlich gemacht. Nachdem herausgekommen war, dass die Schauspielerin Jane Russell ohne weiteres ein Kind aus Irland mit in die USA nehmen konnte, kamen in der Öffentlichkeit Fragen auf. Der übermächtige Einfluss der katholischen Kirche, von deren Wohlwollen und Unterstützung sogar die Regierung abhängig war, sorgte indes dafür, dass die Nachforschungen vorerst keine Veränderungen bewirkten und kritisches Nachfragen unterdrückt bzw. ausgesessen wurde. Stattdessen konnten wohlhabende Amerikaner weiterhin Kinder aus Irland adoptieren, die von unehelichen, jungen Müttern in einem Kloster zur Welt gebracht wurden. Einer Prüfung wurden diese Eltern nicht unterzogen, sondern sie mussten lediglich nachweisen, dass sie katholisch seien und die Kinder in diesem Glauben erziehen werden. Gegen eine Spende konnten sie das Kind dann mitnehmen, während die leiblichen Mütter – als Sünderinnen in Ungnade gefallen – drei Jahre lang ihre Schulden für die Aufnahme im Kloster abarbeiten und ein Formular unterschreiben musste, dass sie das Sorgerecht freiwillig der Kirche übertragen. Die politische Dimension des Falles wird in dem Film zwar angesprochen und insbesondere durch die Texttafeln am Ende deutlich, ist jedoch insgesamt weit weniger präsent.
Die andere Seite der Geschichte
Aber auch Martin Sixsmiths Buch ist keine politische Abhandlung. Vielmehr erzählt er getreu des Originaltitels „The Lost Child of Philomena Lee“ hauptsächlich die Geschichte des Kindes von Philomena, also von Anthony Lee, der im Alter von drei Jahren adoptiert wurde und in den USA unter dem Namen Michael Hess aufwuchs und lebte. Im Gegensatz zum Film, der sich auf Philomenas Suche nach ihrem Kind und die Beziehung zwischen Martin Sixsmith und ihr konzentriert, werden im Buch Anthonys/Michaels Leben und vor allem die Folgen seiner Adoption rekonstruiert: sein lebenslanger Kampf gegen das Gefühl, jederzeit abgelehnt und verlassen zu werden, sein schwieriges Verhältnis zu sich selbst und seinem Stiefvater, seine Suche nach seiner Identität, sein beruflicher Erfolg und sein lebenslanges Hadern mit inneren Widersprüchen. Diese Kapitel sind insbesondere im Zusammenspiel mit dem Film interessant und erlauben einen anderen Blick auf die Geschichte. Allerdings fällt bei der Lektüre oftmals auf, dass die in direkter Rede wiedergegeben Dialoge im Nachhinein rekonstruiert wurden. Sie sind oftmals zu analytisch und psychologisierend. Ihnen fehlt Lebendigkeit, stattdessen beschreiben sie Michaels mitunter schwierigen Charakter und versuchen ihn gleichermaßen zu erklären. Dadurch wird das Buch zu einer Mischung aus Sachbuch und Roman, jedoch fehlt ihm von erstem die analysierende Erzählperspektive und von zweitem die Inneneinsichten. Dadurch kommt man Michael in dieser vermittelten Biographie nicht näher.
Die Leistung der Drehbuchautoren
Diese Mischung trägt aber auch dazu bei, dass sich das Buch gut und zügig lesen lässt. Zudem zeigt es ein weiteres Mal, welche Leistung die Drehbuchautoren Steve Coogan und Jeff Pope mit ihrer Adaption vollbracht haben. Sie haben sich von der Struktur des Buches vollständig gelöst, den Erzähler zu einer Hauptfigur gemacht und mit seinem Verhältnis zu Philomena, das im Buch überhaupt nicht thematisiert wird, für zahllose amüsante und kluge Dialoge gesorgt. Dadurch haben sie zum einen verhindert, dass der Film allzu rührselig wird, ihm zum anderen um einen weiteren Aspekt erweitert: der Film erzählt auch, wie tief Komplexe und Strukturen sitzen können, die einem jungen Menschen eingeimpft werden. Denn noch als erwachsene, ältere Frau hadert Philomena mit der Sünde, die sie in den Augen der Kirche begangen hat. Insgesamt ermöglichen der famose Film und das interessante Buch somit einen umfassenden Blick auf diese wahre Geschichte.
Martin Sixsmith: Philomena. Eine Mutter sucht ihren Sohn. Übersetzt von Heike Holtsch. Ullstein 2014.