Walter Sherris ist weiß, hat eine hübsche Frau und zwei Kinder. Er arbeitet als Buchhalter, besitzt ein Haus in einem Vorort, ein Auto und mag sein durchschnittliches Leben. Dann wird er eines Abends, als er lediglich zwei Blocks zu Fuß von seiner Arbeitsstelle zu einem Café geht, von einer Bande Jugendlicher zusammengeschlagen. Fortan ist alles anders: Obwohl ihm alle raten, er solle einfach froh sein, dass er noch lebt, kann er den Überfall nicht vergessen. Er will Rache, er will, dass diese Jungs zur Rechenschaft gezogen werden, dass sie dafür bezahlen, ihn verletzt zu haben, Zweifel an seiner Ehefrau gesät zu haben. Und weil er ahnt, dass die Polizei wenig unternimmt, macht er sich auf eigene Faust auf die Suche nach ihnen.
Bereits bei dem zweiten Absatz von Leigh Bracketts „Raubtiere unter uns“ musste ich an den Anfang des fünf Jahre später erschienenen „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess denken: Kriminell geworden sind die Jugendlichen, die den Überfall begangen haben, „durch Zufall. Ihre Veranlagung hatte nichts mit überbevölkerten Slums, zerrütteten Elternhäusern oder unterdrückten Minderheiten zu tun. Das alles sind soziale Probleme, aber was diese Jungs antrieb, war älter als die menschliche Gesellschaft, es war so alt und reichte so tief hinab wie die Wurzeln der Menschheit: Ihr Problem war das ewige Raubtier in uns, jenes uralte Raubtier, dessen erster Name Kain war.“
Tatsächlich sind Chuck und seine Bande Jugendliche, die Spaß an der Gewalt und Terror finden – und zwar nicht in einer großen Stadt, sondern einem scheinbar so idyllischen Suburb. Walter Sherris verkörpert dieses Leben gewissermaßen, er sei bestimmt ein Mann, der sich von seiner Frau sagen ließe, er solle mal den Rasen mähen, sagen sie ihm bei dem Überfall. Es entfacht zusätzlich ihre Wut, dass er kein Penner ist – wie ihre üblichen Opfer – sondern eben ein stinknormaler Mann.
Maliziös seziert Brackett das Vorortleben, dessen idyllische Sicherheit durch den Überfall für Walter Sherris und seine Familie ruiniert ist. Er weiß, dass seine Rachegedanken falsch und gefährlich sind, doch seine Angst ist nicht ohne Grund. Zumal sich auch seine Ehefrau Tracey seltsam verhält. Er hat sie geheiratet, weil er sie liebt, „weil sie hübsch ist und fröhlich und wir viel Spaß zusammen haben.“ Sie hat gesagt, dass sie nach dem Überfall – während er neun Tage im Koma lag – eine Drohbrief erhalten hat und deshalb nach Boston gereist ist. Doch er wird den Verdacht nicht los, dass sie mit der Situation überfordert war. Nun wäre es allzu leicht, in Tracey nur eine dieser typischen Frauenfiguren der 1950er Jahre zu sehen: Stattdessen aber zeigt sich bei ihr, welche Folgen das „Beschützen“ von Mädchen und Frauen haben kann – und dass man manchmal erst eine Gelegenheit braucht, zu beweisen, was in einem steckt.
Leigh Brackett: Raubtiere unter uns. Übersetzt von Tony Westermayr. Unionsverlag 1999. 224 Seiten. Nur noch antiquarisch erhältlich.