Krimi-Kritik: „Angel Baby“ von Richard Lange

Eine schöne Frau verlässt ihren fiesen Ehemann in Mexiko, um mit ihrer Tochter in den USA ein neues Leben zu beginnen. So weit, so bekannt. Doch Richard Lange gelingt in seinem Thriller „Angel Baby“ weitaus mehr als die Geschichte einer Frau, die ein Leben zurücklassen will. Vielmehr durchdringt die Realität der mexikanisch-amerikanischen Grenze das Leben seiner Charaktere vollends. Sie sind gefangen in den Entscheidungen, die sie getroffen haben, in ihren Schwächen und Sehnsüchten.

(c) Heyne

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Luz ist eine hübsche junge Frau, die in jungen Jahren ein Kind bekommen hat und dann ihr Schicksal an einen falschen Mann geheftet hat. Deshalb hat sie das Baby bei ihrer Tante in Los Angeles zurückgelassen und ist mit El Samurai nach Tijuana gegangen. Sie erregte die Aufmerksamkeit von Rolando – El Principe–, dem örtlichen Drogenboss, der sie dem Samurai abnahm und heiratete, obwohl er es – wie er in einer seiner seltenen menschlichen Regungen offenbart – nicht musste: „Aber sie hatte diese Kleinigkeiten an sich, die ihn faszinierten. Die Traurigkeit, die aus jedem Lächeln ein Geschenk machte. Das sanfte Herz, das zum Vorschein kommt, wenn sie sich verletzlich zeigte. (…). All das nahm ihn für sie ein, auch wenn die Schlampe im nächsten Augenblick wieder mit einem heimlichen Blick oder bösen Wort das Herz aufschlitzte.“ Und deshalb hatte sie Macht über ihn. „Sie kannte all seine Ängste, all seine Schwächen, und wusste sie gegen ihn einzusetzen.“ Deshalb erträgt Luz mit Xanax, Valium, Vicodin und Oxycotin das Leben an der Seite von Rolando. Ein spontaner Fluchtversuch ist bereits gescheitert, ihren zweiten Anlauf hat sie ein Jahr lang sorgfältig vorbereitet und zieht ihn gnadenlos durch: Entweder wird sie zum vierten Geburtstag ihrer Tochter bei ihr sein – oder tot.

Tatsächlich gelingt es Luz, aus Rolandos Haus zu kommen und einen Vermittler aufzusuchen, der ihr eine Möglichkeit verschafft, über die Grenze in die USA zu kommen. Dadurch begegnet sie Malone, der vor langer Zeit ein anderes Leben hatte. Auch er ist in jungen Jahren Vater geworden, hat geheiratet und im Geschäft seines Vaters gearbeitet. Sein Leben plätscherte dahin, doch dann starb seine Tochter und alles ging den Bach hinunter. Seither trinkt er und versucht zu vergessen, verdient etwas Geld, indem er Mexikaner in die USA schmuggelt. Malone und Luz bilden ein Duo der Verletzten und Versehrten, die sich irgendwie gegen höhere Gewalten durchsetzen müssen. Auf der anderen Seite stehen der Ex-Killer Geronimo, der eigentlich einen neuen Anfang gesucht hat und nun doch im Gefängnis sitzt. Als Rolando ihn verpflichtet, seine Frau zu jagen, bleibt ihm keine andere Wahl – zumal seine Familie in Rolandos Händen ist. Auf seiner Verfolgung begegnet er wiederum dem Border-Patrol-Officer Thacker, der seit dem Scheitern seiner Ehe spielsüchtig ist und Schulden hat. Er braucht das Geld, das Luz bei sich hat – und das Gefühl der Übermacht. Sie sind die ungleichen Verfolger von Luz und Malone und zwischen den vieren entspinnt sich ein packender Kampf.

Dabei gelingt es Richard Lange, alle vier Charaktere differenziert zu schildern – sie bekommen einen Hintergrund und Inneneinsichten, so dass man sich in Luz ebenso hineinversetzen kann wie in Geronimo und sogar auf ein gutes Ende für beide hofft, so unmöglich es erscheint. Man hofft mit Malone, er ist ein Antiheld, der aber dennoch in den entscheidenden Situationen richtig handelt – und sogar Thacker und Rolando offenbaren in all ihrer Widerwärtigkeit und Bösartigkeit menschliche Momente. Deshalb ist „Angel Baby“ ein Thriller, in dem die Seiten nicht klar verteilt sind, sondern sich die Sympathien beständig verändern. Von der ersten Seite an stürzt man sich in die Lektüre und kann kaum aufhören, dabei findet Richard Lange immer wieder Drehungen und Wendungen, die die Handlung voranzutreiben. Es ist vor allem Luz’ Willen zu verdanken. Sicher hat sie falsche Entscheidungen getroffen. Dessen ist sie sich selbst sehr bewusst. Ihr Leben war geprägt von Armut, Vernachlässigung und Unsicherheit, deshalb hat sie es womöglich nicht besser gewusst. Aber sie braucht keine Rettung oder einen (männlichen) Retter, sondern sehr konkrete Dinge: eine Transportmöglichkeit in die USA beispielweise. Das unterscheidet sie von vielen anderen Figuren.

„Angel Baby“ ist mehr als ein Pageturner, es ist eine Abhandlung über moralische Kompromisse. In der Ausweglosigkeit erinnert der Thriller bisweilen an Urban Waites „Wüste der Toten“, jedoch findet Richard Lange sogar einen Schluss, an dem nicht alle sterben müssen. Zumindest vorerst nicht.

Richard Lange: Angel Baby. Übersetzt von Jan Schönherr. Heyne 2015.

Nachtrag:
Tatsächlich dachte ich beim Lesen einige Male, dass der Stil dieses Buch bestimmt von vielen als ‚filmisch’ beschrieben wird – und habe nun gelesen, dass Warner Bros. die Verfilmungsrechte gekauft haben. Hoffentlich behalten sie die moralischen Grauzonen bei.

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3 Gedanken zu „Krimi-Kritik: „Angel Baby“ von Richard Lange

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