Von „A.I. – Künstliche Intelligenz“ und „Terminator 2 – Tag der Abrechnung“ über „Galaxy Quest“ und „Alien 1-4“ bis hin zu Fernsehserien wie „Star Trek“ oder „Raumschiff Orion“ zitiert Heinrich Steinfest in seinem Roman „Wo die Löwen weinen“ vor allem Science Fiction. Aber schon in meinen ersten beiden Beiträgen ist deutlich geworden, dass die Funktion dieser Referenzen meist über ein Motto oder Zitat hinausgehen. Ein gutes Beispiel ist hierfür meines Erachtens „Galaxy Quest“.
Die Science-Fiction-Komödie liefert nämlich nicht nur die prominent und passend zitierte Aussage „Schächte, immer sind es Schächte“, sondern auch eine Pointe bei der Betrachtung der Pläne für den Bahnhofsumbau. Als der Archäologe Mach die Modelle für Stuttgart 21 sieht, fühlt er sich in eine Serie wie „Raumschiff Enterprise“ oder „Orion“ zurückversetzt. In „Galaxy Quest“ geht es nun gerade darum, dass eine Fernsehserie für die Wirklichkeit, ja, für ein historisches Dokument gehalten wird. Vielleicht sind die Macher von Stuttgart 21 also auch der Versuchung erlegen, fiktionale Möglichkeiten als realistisch zu sehen? Denn anscheinend wollen sie „alles und jeden durch eine Computeranimation“ ersetzen – womit darüber hinaus erneut die Vision von „A.I.“ angesprochen wäre. Bevor ich mich nun aber weiter mit den Anspielungen beschäftige, sei erneut die Warnung wiederholt: Ich werde auf wichtige Teile der Handlung inklusive des Endes des Romans eingehen. Wer Steinfests „Wo die Löwen weinen“ also noch nicht kennt, sollte das Buch besser vorher lesen!
Wird aus Stuttgart „Alphaville“?
Der Roman ist sehr filmisch in drei Teile, einen Vor- sowie Abspann eingeteilt. Jedem Teil sind mehrere Zitate als Motto vorangestellt, die – wie das oben zitierte „Schächte …“ – die Handlung pointieren, aber auch konnotieren. Der zweite Teil des Romans wird unter anderem mit einem Zitat aus Jean-Luc Godards Science-Fiction-Film „Alphaville“ aus dem Jahre 1965 eingeleitet. In dem Film sucht der Geheimagent Lemmy Caution die futuristische Stadt Alphaville auf, die von einem Computersystem namens Alpha 60 gesteuert wird. Als oberstes Prinzip regiert in Alphaville die Logik, Emotionen und Poesie sind hingegen verboten. Wer gegen die Regeln verstößt, wird eliminiert. Nun trifft mit Lemmy Caution ein Agent aus den kapitalistischen und noch freien Außenbezirken in dieser kalten Stadt ein und sorgt mit seinem regellosen Verhalten für Unruhe – er bringt Liebe und Durcheinander in die Stadt.
In „Wo die Löwen weinen“ kehrt Kommissar Rosenblüt aus München in seine Heimat Stuttgart zurück und steigt in dem Hotel am Schlossgarten ab, das zwischen dem Oberen Schlossgarten und der Königsstraße, in der Nähe des Planetariums gelegen ist. In diesem Hotel wird er mit dem Satz „Mir geht es ausgezeichnet, danke, bitte!“ begrüßt – ebenso wie Lemmy Caution in seinem Hotel in Alphaville. Beide erhalten das Zimmer mit der Nummer 344. Und fraglos bringt auch Kommissar Rosenblüt Unruhe nach Stuttgart – wenngleich auch keine Liebe. Obwohl er mit Teska Landau eine an Lemmy Cautions Geliebte Natascha dank der traurigen Augen erinnernde mögliche Liebschaft an seiner Seite hätte. Stuttgart könnte also auf dem Weg sein, ein zweites Alphaville zu werden – wenn das S 21-Projekt nicht jeglichen Regeln der Logik widerspräche.
Francis Ford Coppola und „Der Pate“ oder: Abtrünnige und der Oberbürgermeister
Das Hotel kehrt als Handlungsort am Ende von „Wo die Löwen weinen“ wieder. Nach dem Anschlag auf einen seiner Mitarbeiter ist auch Palatin, der im Auftrag der Stadt Stuttgart die Beseitigung des Schloßgarten-Mechanismus beaufsichtigen soll, dorthin gezogen. Eines Abends begegnet er Kommissar Rosenblüt in der Hotellounge. Keiner weiß, warum der andere dort wohnt, sie kennen sich nicht, sondern unterhalten sich einfach über Francis Ford Coppolas „Apokalypse Now“ – ein durchaus vieldeutiger Titel in ihrer Situation. Darüber hinaus handelt der Antikriegsfilm unter anderem davon, dass ein vermutlich wahnsinnig gewordener abtrünniger Soldat in Kambodscha liquidiert werden soll. Auch Palatin muss sich bald mit einem – aus seiner Sicht – Abtrünnigen auseinandersetzen, der nach landläufiger Meinung ebenfalls als verrückt angesehen werden wird. Aber die „Man on Wire“-Aktion von Wolf Mach wird ebenfalls die Absurdität des Stuttgart-21-Baus und vor allem das sinnlose Sprengen des Schloßgarten-Mechanismus entlarven.
Ungeachtet dessen hat Palatin den Abend genossen, schreckt aber mitten in der Nacht aus einem Traum auf. Einen kurzen Moment lang glaubt er, neben ihm auf dem Kopfkissen läge der abgeschnittene Kopf eines Tieres oder vielleicht auch Menschen. Nach dieser Anspielung auf Coppolas „Der Pate“ bemerkt er, dass er von einem Anruf von dem Stuttgarter Oberbürgermeister geweckt wird, der manchmal an einen „schlaksigen Paten“ erinnert.
Die Kraft der Poesie
Damit hören an diesem filmischen Ort die Anspielungen nicht auf. Denn Palatin erhält nach dem Anruf und einem Blick aus dem Fenster von einer jungen Hotelangestellten ein Buch, Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“, mit einer Widmung von Wolf Mach. Durch dieses Buch hat Mach die schlafende Kriegerin entdeckt – und womöglich hat es ihn zu seiner Aktion am Planetarium inspiriert. Selbst Hans Tobiks finale Entscheidung ist für ihn ein „Akt der Poesie. Denn die Poesie hat Tobik gefangengenommen, wie das die Poesie mitunter tut, wenn ihr danach ist“. Daher wartet er vorerst den Verlauf der Ereignisse in Stuttgart ab und sinniert, dass man das Wort Liebe nicht erklären kann. Die Menschen in „Alphaville“ hingegen wissen schon gar nicht mehr, was Liebe ist. Dort ist es ebenfalls ein Buch („La capitale de la douleur“), das eine Veränderung bewirkt hat – und es ist die Poesie, die Alpha 60 letztendlich zerstört. So bleibt allen Filmzitaten und Anspielungen zum Trotz am Ende die Erkenntnis: „Nach dem Theater ist das Leben“!
Fraglos gibt es in „Wo die Löwen weinen“ noch weitere Filmzitate und Anspielungen, die ich bislang nicht entdeckt habe – oder noch nicht ausreichend interpretieren kann. Dazu gehören beispielweise die Morlocks aus „Der Zeitmaschine“. Hier kenne ich weder Roman noch Film, daher erkenne ich zwar die Anspielung auf Wells, aber nicht mehr. Ähnlich ist es mit der schlafenden Kriegerin, die von „Metropolis“ bis zu „Alien“ gleich eine ganze Reihe Assoziationen hervorruft. Ihr werde ich einen eigenen Beitrag widmen, sobald ich die „Alien“-Filme nochmals gesehen habe. Bis dahin bleibt für mich die Erkenntnis, dass es bei diesem Buch bei jeder Lektüre etwas Neues zu entdecken gibt. Für alle Hinweise und Anregungen bin ich daher sehr dankbar …
Das Buch hört sich super an, bin über den Bezug zu “Alphaville” darauf gekommen, und da ich Heinrich Steinfest letztes Jahr bei einem Werkstattgespräch sehen konnte, bin ich jetzt schon überzeugt – Buch kommt auf meine Wunschliste.