Das wahre Leben, merkt DI Adam Fawley an, ist „sehr viel chaotischer als Inspector Morse“. Dieser Verweis kommt in Cara Hunters „No way out – Es gibt kein Entkommen“ nicht ohne Grund: Ihre Reihe spielt in Oxford, außerdem spricht DI Fawley gerade mit einer Akademikerin, die ihm wichtige Informationen vorenthalten hat. Und das kennen wir doch alle von Morse, Lewis und Hathaway. Aber trotz dieser Referenz an die berühmten Oxford-Rätselkrimis ist Cara Hunters Kriminalroman anders – moderner, differenzierter und viel stärker in der gegenwärtigen Welt verankert.
Bei dem Fall, in dem Fawley und sein Team ermitteln, geht es um Brandstiftung und Mord: Ein Haus hat gebrannt. Die Feuerwehr hat die Leiche des jüngsten Sohnes der Familie Esmond gefunden, der zweite Sohn wird schwer verletzt geborgen. Von den Eltern aber fehlt jede Spur. Bald stellt sich heraus, dass es in der Familie Probleme gab, vor allem der Vater Michael hat sich in den vergangenen Monaten verdächtig verhalten. Hat er das Haus angezündet?
Cara Hunter verbindet in ihrem Roman die Erzählweisen des Police Procedural mit denen des Domestic Thrillers. Da sind auf der einen Seite Fawley und sein Team mit all ihren privaten und beruflichen Problemen. Fawley fürchtet, seine Frau könnte ihn verlassen. Detective Sergeant Gislingham hat den Posten als leitender DS bekommen, weil sein Kollege Quinn wegen Missverhaltens degradiert wurde; Quinn ist aber weiter im Team. DC Erica Somer ist erst seit drei Monaten bei der Kriminalpolizei und muss ihre Rolle noch finden. Ihre Kollegin Verity Everett hat mit ihrem dementen Vater alle Hände voll zu tun, will das aber nicht publik machen. Diese Probleme sind da, sie bestimmen aber nicht die Handlung oder belasten die Ermittlungen. Vielmehr ist es alltäglicher: private Probleme verschwinden nicht auf wundersame Weise, rücken aber bei der Arbeit in den Hintergrund.
Dadurch sind die Polizist*innen auf routinierte Weise professionell, bieten aber zugleich ausreichend Anknüpfungspunkte, die eine Serie braucht: sie haben etwas, was man im Englischen so schön als relatable bezeichnet, ohne ganz klar auf Sympathie angelegt zu sein. Dafür haben sie zu viele Ecken und Kanten, Schwächen und Stärken. Ihre Komplexität hat mir beim Lesen ausgesprochen gut gefallen – so gut, dass ich fast ein bisschen befürchte, sie ist vor allem darauf zurückzuführen, dass „No way out“ der dritte Teil der Reihe ist, aber der erste Teil, den ich gelesen habe. Cara Hunter zeigt hier, dass das gute alte Police Procedural durchaus die Möglichkeit hat, komplexere Figurentypen zu zeigen als nur den aufrechten Cop, der gegen alle Widerstände ermittelt. Hier geht es diverser zu, ohne dass es aufgesetzt erscheint – und hier werden verschiedene Arten von Männlichkeit innerhalb der Polizei verhandelt.
Die Ermittlungen dieses Teams verlaufen nun ebenfalls weitgehend unaufgeregt: Zufälle sind hier tatsächliche Zufälle. Beispielsweise taucht ein Handy erst spät auf, weil der Taxifahrer, der es gefunden hat, im Urlaub war. Die Arbeit der Brandermittler bringt neue Beweise zutage, die die Richtung der Ermittlungen verändern. Die Ermittlungsarbeit besteht nun – ganz im Gegensatz zu Morse – nicht aus Pints im Pub, dem Hören von Musik und Lösen von Kreuzworträtseln, sondern in kleinteiliger Arbeit: das Befragen von Nachbarn und Familienmitgliedern, das Auswerten von Spuren, Nachvollziehen von Wegen. Indem Hunter zudem Zeitungsartikel plus Leserkommentare einbindet, verweist sie auf die Wahrnehmung des Falls außerhalb der Polizei. Dazu kommen Protokolle, durch die sich Ermittlungsschritte nachvollziehen lassen – jedoch nicht zum miträtseln, sondern sie sollen Einblicke in die Arbeit der Ermittler vermitteln. Dadurch sind sie ein weiterer dieser vielen kleinen Verankerungen in der „Realität“. Natürlich wird auch hier von Zeugen gelogen, es gibt auch ein genretypisches actionreiches Ende. Der Weg dorthin ist zwar wendungsreich, aber stets plausibel.
Zu diesem guten Police-Procedural-Teil kommen nun Passagen, die von der Familie Esmond erzählen und 317 Tage vor dem Feuer einsetzen. Sie enthüllen nach und nach das Bild einer Familie mit Problemen – Eifersucht zwischen den beiden Kindern; der besorgte Ehemann Michael, dessen akademische Karriere nicht gut lief und der kontrollierend und einengend wirkt; die Ehefrau Samantha, die seit der Geburt des zweiten Kindes depressiv ist und sich bemüht, ihren Ehemann nicht zu verärgern. Diese Kapitel liefern Einblicke in das Familienleben mit allen Subjektivitäten und Unzuverlässigkeiten, die dazu gehören. Dadurch werden die Hypothesen des Ermittlungsteams gut unterstützt: Hatte Samantha möglicherweise keine Postnatale Depression, sondern eine Psychose? Hat Michael seine Familie und dann sich selbst umgebracht? Oder lebt er, schließlich begehen nur „etwa siebzig Prozent aller Familienauslöscher“ Selbstmord. Auch hier gibt es immer wieder diese kleinen Hinweise auf Realitäten außerhalb des Buchs, die aber nicht dazu dienen eine „Realismusbehauptung“ aufzustellen. Vielmehr sorgen diese kleinen Verankerungen dafür, dass dieses Buch eine ungemein spannende Beiläufigkeit durchzieht – und sehr viel Lust auf weitere Teile mit DI Fawley und seinem Team machen.
Cara Hunter: No Way Out – Es gibt kein Entkommen. Übersetzt von Iris Hansen, Teja Schwaner. Aufbau Taschenbuch 2021. 416 Seiten. 10 Euro.