Lucy O’Sullivan ist verzweifelt: Seit 440 Tagen ist ihre Schwester Nikki verschwunden. Sie weiß nicht, wo sie ist. Ob sie noch lebt. Was ihr passiert. Sie war einfach weg: Gerade noch hat eine Überwachungskamera sie beim Verlassen eines Pubs gezeigt, in dem sie mit ihren Freundinnen war. Danach verliert sich jede Spur von ihr. Lucys eigenes Leben steht seither auf Pause. Sie muss wissen, was Nikki passiert ist. Deshalb irrt Lucy fast jede Nacht umher – und versucht herauszufinden, was mit ihrer Schwester geschehen ist.
Lucy ist überzeugt: Auf die Polizei kann sie sich bei der Suche nicht verlassen. Auch auf die Medien nicht. Denn Nikki entspricht nicht dem Typ Frau, dem Aufmerksamkeit gegeben wird. Sie ist – vereinfacht gesagt – nicht unschuldig genug. Tatsächlich setzt eine breite Ermittlung erst ein, als die blonde, strahlende Teenagerin Jennifer Gold(!) verschwindet. Sie ist noch unschuldig genug, um anzunehmen, sie habe ihr Verschwinden nicht in irgendeiner Weise provoziert. Dass ihr Onkel zudem Beziehungen zur Garda hat, schadet auch nicht: Eine Taskforce wird eingesetzt. Fortan wird Jennifers Verschwinden zusammen mit Nikkis Verschwinden und das einer weiteren Frau untersucht. Aber auch die Task Force kommt nur langsam voran.
Dass nicht jede verschwundene Person dieselbe Aufmerksamkeit bekommt, ist seit dem True-Crime-Boom ein bekanntes Phänomen. In „The Trap“ wird das sehr oft betont. Dennoch ist die Konstruktion dieses Kriminalromans gut genug, um trotz solcher Redundanzen die Spannung zu halten. Es gibt so einige überraschende Wendungen. Außerdem gelingt Howard – weitaus besser als beispielsweise Danya Kukafka in „Notizen zu einer Hinrichtung“ – von einem Täter zu erzählen, ohne ihn in den Mittelpunkt alles Handelns zu stellen. Diese Perspektive liefert interessante Einblicke und entlarvt zugleich dessen Alltäglichkeit.
Vor allem aber sitzt das Misstrauen gegen Institutionen – Presse wie Polizei – tief in diesem Kriminalroman: Die Polizei ist eher an medialer Aufmerksamkeit, Prestige und finanziellen Mitteln interessiert – einzig zwei Ermittlerinnen setzen etwas dagegen. Aber Howard tut nicht so, als könnten diese zwei Frauen das systemische Versagen vollumfänglich auffangen. Ganz im Gegenteil: Wie begrenzt ihre Möglichkeiten sind, wird sehr deutlich.
Die Presse ist vor allem durch einen schmierigen True-Crime-Reporter präsentiert – aber ohne zu viel zu verraten: Am Ende zeigt sich sehr deutlich, wie wichtig mediale Aufmerksamkeit für alle Frauen sein kann.
In ihrem Nachwort dann erzählt Catherine Ryan Howard von dem „Vanishing Triangle“, das wohl jede mittelalte Frau in Irland kennt: In der Gegend um Leinster und den Wicklow-Bergen, in der auch ihr Roman spielt, verschwanden in den 1990er Jahren mindestens acht Frauen zwischen 17 und 39 Jahren. Sie wurden niemals gefunden, der Fall wurde niemals aufgeklärt. Diese wahre Kriminalfall hat „The Trap“ inspiriert. Hier bleiben nicht alle Frauen verschwunden – aber dennoch ist am Ende ganz bestimmt nicht alles gut.
Catherine Ryan Howard: The Trap. Wie weit würdest Du gehen, um Deine Schwester zu retten? Übersetzt von Dietmar Schmidt. Bastei Lübbe 2025. 352 Seiten. 18 Euro.