Norma Desmond heißt die Hauptdarstellerin in „Sunset Boulevard“, jenem großartigen Film noir von Billy Wilder. Darin erzählt er die Geschichte einer alternden Schauspielerin, deren Karriere durch das Aufkommen des Tonfilms scheiterte – und die seither zurückgezogen mit ihrem Butler Max in einer Schweinwelt lebt. Durch einen Autounfall trifft der mittellose Drehbuchautor Joseph Gillis auf die alternde Diva und lässt sich fortan von ihr aushalten. Aber Joseph ist eigentlich in eine jüngere Frau verliebt und es kommt zu einem tragischen Ende. Warum ich das hier erzähle? Diese Geschichte ist die ganz und gar nicht verschleierte Folie zu Ken Bruens „London Boulevard“ – und sein Spiel mit diesen Versatzstücken ist ebenso offensichtlich wie unterhaltsam.
Bei Bruen bekommt der kleine Gauner Mitchell kurz nach seiner Haftentlassung das Angebot, an dem Haus der exzentrischen älteren Schauspielerin Lillian Palmer („mehrfach geliftete Ende sechzig“) Reparaturarbeiten durchzuführen. Zwei Welten prallen aufeinander: die Realität der Straße trifft auf die große Illusion, der toughe, authentische Mitchell auf die „niemals nicht auf der Bühne“ stehende Lillian. Mitchell will unbedingt ein neues Leben beginnen, Lillian will den Traum von einem Comeback nicht aufgeben. Dieses Zusammentreffen kann nur tödliche Folgen haben, bemerkenswert ist aber vor allem die Art und Weise, wie Bruen die Handlung inszeniert. Mit großem Vergnügen lassen sich alle wesentlichen Elemente des „Sunset Boulevard“ wiederfinden: das wertvolle Auto, die vom Butler geschriebenen Fanbriefe, das Präsentieren des jüngeren Geliebten und sogar der Selbstmord. Doch dazu gibt es in diesem gelungen Pastiche jede Menge noir-Elemente: Gewalt, Brutalität, den bösen Gangsterboss – und statt dezenter Andeutungen auf die sexuelle Beziehung explizite Sex-Szenen.
„Sie haben eine Handvoll mittelmäßiger Krimis gelesen und glauben, Sie verstehen was vom Leben“
Dennoch ist „London Boulevard“ ein typischer Ken-Bruen-Roman. Er ist noch vor der Reihe mit dem Privatdetektiv Jack Taylor entstanden, und Mitchell ist wesentlich reflektierter als sein Kollege aus Galway. Daher lässt er sich auch besser ertragen. Dem Alkohol durchaus zugeneigt, verliert sich Mitchell nicht gänzlich. Er ist sich seiner Situation bewusst und ahnt, dass sich seine Sehnsucht nach einem normalen Leben nicht erfüllen wird. Doch er ist ebenso belesen wie Jack Taylor. Die Literatur spielt bei Ken Bruen immer eine wichtige Rolle. Die Kriminalautoren, denen Bruen in diesem Roman seine Referenz erweist, sind einer der vielen, ebenfalls charakteristischen Listen zu finden. In seiner ersten Unterkunft nach dem Gefängnis findet Mitchell eine Bibliothek:
„Kurzer Blick auf die Bücher, eine ganze Wand mit Krimis. Ich entdeckte
Elmore Leonard
James Sallis
Charles Willeford
John Harvey
Jim Thompson
Andrew Vachss“
Damit ist die Stilrichtung des Romans vorgegeben. Dazu gehören der lakonische Stil, knappe, präzise Formulierungen und bitterschwarzer Humor – und alles ist bei Bruen äußerst ausgeprägt. Daher ist „London Boulevard“ ist ein lesenswerter Kriminalroman, eine noir-Variante des „Sunset Boulevard” – und wer nur einen der genannten Autoren schätzt, wird diesen Roman mit Vergnügen lesen.
Nachtrag: Als ich hörte, dass „London Boulevard“ verfilmt wurde, war ich begeistert – und überrascht. Würde es tatsächlich jemand wagen, eine Sexszene zwischen einer gut gelifteten sechzigjährigen Schauspielerin und dem Hauptdarsteller Colin Farrell auf die Leinwand zu bringen? Ich dachte bei der Besetzung an Judi Dench, vielleicht Leslie Manville oder gar Helen Mirren. Und es wurde – Keira Knightley. Sie spielt eine eigenbrötlerische, zurückgezogene Schauspielerin, Mitchell ist ihr Bodyguard. Das hört sich nach wenigen Gemeinsamkeiten mit dem Roman an. Aber da ich den Film bislang noch nicht gesehen habe, warte ich einfach mal ab. Einen Blick auf den Trailer gibt es hier!
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