Über „Vertigo“ von Ahmed Mourad

Manchmal sind bei einem Buch die Hintergründe noch bemerkenswerter als das Buch an sich. Der ägyptische Autor Ahmed Mourad wurde 1978 geboren, hat als Filmemacher (Alhaúmon, And On The Seventh Day und The Three Papers) und Profi-Fotograf gearbeitet und dann eine Stelle als persönlicher Fotograf des damaligen Staatschefs Hosni Mubarak angenommen. Diese Stelle behielt er bis zum Umsturz 2011 und in dieser Zeit begann er mit der Arbeit an „Vertigo“.

(c) Lenos

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Die Verbindungen sind offensichtlich: Der Protagonist des Buches von Ahmed Mourad, der am 14. Februar geboren ist, heißt Ahmed Kamal, wurde auch am 14. Februar geboren und war nach einem BWL-Studium froh, dass er von seinem verstorbenen Vater den Job eines Gesellschaftsfotografen erben konnte. Nun arbeitet er in einem exklusiven Hotel in Kairo und fotografiert vor allem Hochzeiten. Eines Abends will er nach Feierabend noch seinen Freund besuchen, der in der titelgeben Bar Vertigo im 40. Stock arbeitet. Irgendwann kommt der Hotelmanager vorbei und sagt, dass wichtige Gäste die Bar brauchen, also verzieht sich Ahmad auf den Balkon, auf dem ihn niemand sieht, und will dort auf seinen Freund warten. Zwei Geschäftsleute tauchen mit ihrem Sicherheitspersonal in der Bar auf, es finden die üblichen Machtgeplänkel statt, dann kommen plötzlich drei Männer hinzu und eröffnen das Feuer. Einer der Geschäftsmänner überlebt schwer verletzt, alle anderen sterben. Und Ahmed macht das, was er gelernt hat zu tun: er drückt auf dem Auslöser. Er macht Fotos, hält das Geschehen fest und es gelingt ihm, sich vom Tatort unerkannt zu entfernen. Er schickt die Fotos an eine scheinbar oppositionelle Zeitung, die sie aber nicht mit dem richtigen Text druckt, Polizei und Staatsanwalt ignorieren seine Bilder. Aber Ahmed lässt der Vorgang keine Ruhe, er ahnt, dass höhere Kreise hinter dem Anschlag stecken, aber im Gegensatz zum Leser fehlt ihm die Gewissheit, dass einer der Geschäftsmann Hischâm Fathis sterben sollte, weil er mit einer Prostituierten über den Sohn des Paschas gesprochen und einen Mann von einer anderen Partei finanzieren wollte. Muchî Dhannûn sollte hingegen mit der Verletzung nur gewarnt werden, weil er Geld ins Ausland transferiert, sich einem Waffengeschäft verweigert hat und einen engen Freund des Paschas nicht auf den Markt lässt. Ahmed aber weiß noch nicht einmal, dass der Chefredakteur der Zeitung, an die er die Bilder geschickt hat, ebenfalls Teil des Korruptionsgeflechts und der Intrigen ist.

In der Folge wird Ahmed versuchen, einfach weiterzuleben. Er arbeitet nun in einem Kasino, in dem sich die Reichen und Einflussreichen mit Prostituierten und Alkohol vergnügen. Es sind Passagen, die eine guten Einblick in das Nachtleben geben, aber fast wie eine Exkurs wirken, die von dem eigentlichen Überfall wegführen. Tatsächlich aber bewirken sie dreierlei: sie unterstreichen die moralische Korrumpiertheit der Mächtigen, verstärken Achmads Gefühl, dass er verfolgt wird und jemand weiß, dass er die Bilder hat, und bringen Ahmad in den Besitz weitere Fotografen, die Gudi von dem Vorfall gemacht hat. Er war zu der Zeit auf einem Schiff unterwegs und hat mit einem Teleobjektiv bessere Fotos gemacht, schärfere. Dabei hat er die Brisanz erkannt und sie zusammen mit belastenden Fotos der Prominenten aus dem Kasino weggeschlossen. Also Gudi nun aber stirbt, fallen Ahmad die Fotos in die Hände.

Diese Fotos ermöglichen Ahmad, Druck auf den Chefredakteur auszuüben, zugleich erhält er durch einen weiteren Journalisten mehr und mehr die Zusammenhänge, den Schmutz – und sie geraten schließlich auch ins Visier von Geheimdiensten und der Polizei. Aber sie wollen Verschwörung hinter dem Attentat aufzudecken und zugleich mit dem Leben davon zu kommen. Deshalb bezieht sich der Titel auch weit weniger auf den gleichnamigen Hitchcock-Film als vielmehr auf die Angst, die Mourad angesichts seiner Erlebnisse in der hochgelegenen Bar bekommt.

Man kann in dem Buch verfolgen, wie Ahmad versucht, die Wahrheit zu lancieren, wie der Attentäter Karriere machen will, wie sich Polizei- und Geheimdienstleute überbieten, ihre eigenen Interessen zu wahren und zugleich den jeweils obersten Boss bei Laune zu halten. Damit bietet Mourad ein buntes – bisweilen vielleicht sogar zu buntes – Bild der ägyptischen Gesellschaften: Achmad muss seine verwitwete Mutter unterstützen, seine Schwester heiratet einen fanatischen Muslim und öffnet ihm eines Tages voll verschleiert die Wohnungstür. Er ist verliebt in eine junge Frau, die in einer Schule für Gehörlose arbeitet und gerät mit ihr eine peinliche Situation. Das ist insgesamt sehr blumig und langatmig. Aber dieses Buch wurde bereits 2007 in Ägypten veröffentlicht und dort zu einem Bestseller. Mourad schreibt hier von der Generation, der gut ausgebildeten Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich vier Jahre später auf den Tahrir-Platz versammeln werden, um dieses Regime zu stürzen. Im Jahr 2007 aber war Mourad – wie er selbst in einem Interview mit dem Guardian anlässlich der Veröffentlichung der englischen Übersetzung 2011 sagte – tagsüber damit beschäftigt, Mubarak bei allen möglichen Aktivitäten vom Zusammentreffen mit anderen Politikern bis zu Familientreffen zu fotografieren und abends verbrachte er Zeit mit seinen Freunden, die ihn verfluchten und hofften, Mubarak würde verschwinden. Dadurch sei er wütend geworden, weil er wusste, dass das ägyptische Volk ein besseres Leben verdient hatte, aber das System Mubarak es verhindere. Seinen Zorn ließ er beim Schreiben heraus – und er sagt noch 2011, dass das Buch eigentlich gar nicht veröffentlicht werden sollte. Aber er hätte es bereut, wenn er geschwiegen hätte – und so sieht er sein Buch auch als revolutionären Akt. Und dass Mourad damit nah bei der Wirklichkeit bleibt, hat sich auch schon Anfang des Jahres gezeigt: Ein italienischer Student wurde in Kairo entführt, gefoltert und ermordet, der zu Ägyptens Sozialbewegung und Gewerkschaften recherchierte und sich in oppositionellen Kreisen bewegte. Das ägyptische Innenministerium hat verschiedene Erklärungen geliefert (Verkehrsunfall, Entführung von Ausländers usw.), aber Menschenrechtler vermuten, dass der ägyptische Geheimdienst dahinter steckt und diese Tat nun vertuscht werden soll. Deshalb ist dieses Buch, das außerdem einer der ersten Politthriller in Ägypten überhaupt sind, ein bemerkenswertes Dokument einer kaum vergangenen Zeit.

Ahmed Mourad: Vertigo. Übersetzt von Christine Battermann. Lenos 2016.

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Ein Gedanke zu „Über „Vertigo“ von Ahmed Mourad

  1. Gunnar

    Ich kann deiner Einschätzung nur beipflichten. Den Thriller empfand ich auch als eher solide, der eigentliche Reiz kam durch das Setting und die Hintergründe. Danke für den Interview-Link, das hatte ich noch nicht gelesen.

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