Archiv des Autors: Zeilenkino

Links 01/2024

Tracy Chapman ist seit Teenagerzeiten eine Konstante meines Musikhörlebens und deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass sie bei den Grammys aufgetreten ist. Offenbar war dieser Auftritt für einige Menschen die erste Berührung mit Tracy Chapman – und wozu das in verschiedensten sozialen Medien geführt hat, hat Alex Abad-Santos bei Vox sehr launig und bissig zusammengefasst und kommentiert. Dieser Artikel passt recht gut zu dem, was mich an sozialen Medien oft nervt – dazu kommt: Offenbar liegt Neugier nicht mehr hoch im Kurs. Ich finde neue Dinge superinteressant und versinke dann schon einmal in einem Rechercheloch. Aber auf die Idee, dass ich dann der Welt diese neue Entdeckung erkläre, bin ich noch nie gekommen. Ich halte es da mit Jane Fonda: Ask questions. Stay curios. It’s much more important to be interested than to be interesting.

Bei Slate haben Hillary Frey, Laura Miller und Cheyna Roth den Versuch unternommen, einen „True Crime Canon“ zusammenzustellen – bestehend aus Magazinbeiträgen, Podcasts und Dokumentationen. Die Liste ist sehr US-zentrisch und interessant: sie verbindet Titel, auf die sich vermutlich alle einigen können wie Capotes „In Cold Blood“ mit Podcasts wie bspw. das von mir sehr geschätzte „Bear Brook“. Den Titel hätten sicherlich weniger hier erwartet als bspw. das weit berühmtere „Serial“, das nicht auf der Liste ist. Genau hier wird dann aber – wie bei jedem Titel schwierig: der popkulturelle Einfluss von „Serial“ ist unbestritten, müsste es also in einem Kanon vorkommen? Eine Frage, die ich mir zudem stelle: „True Crime“ ist ein sehr US-amerikanisches Phänomen – wie sehr beeinflussen die US-Produktionen die Sachen aus anderen Ländern? Ist das eine globale „True-Crime-Ästhetik“ oder gibt es da regionale Unterschiede?

Seit kurzem versuche ich herauszufinden, warum in Hannover ein Denkmal zu Walter Rathenau steht. Eine Erklärung habe ich bisher nicht gefunden, das liegt aber vermutlich daran, dass ich bei der Suche andauernd über interessante Dinge stolpere, denen ich dann nachgehen muss. Das ist okay, es ist ja Privatvergnügen. Gefunden habe ich die Erinnerungen von Theodor Lessing, der über den Umgang Hannovers mit berühmten Persönlichkeiten zu treffend konstatiert: „Es war recht komisch, als man um 1890 in Hannover entdeckte, daß man zwar nach Leibniz eine Straße, einen Platz und eine Keksfabrik benannt und ihm ein Denkmal errichtet, aber seinen Namen fälschlich »Leibnitz« geschrieben habe.“ Und ehrlich gesagt: dass sowohl Friedrich und August Wilhelm Schlegel als auch August Wilhelm Iffland ebenfalls in Hannover geboren sind, wusste ich vorher nicht. Und ich wette, nur wenige wissen, dass Hannah Arendt in Hannover geboren wurde.

Passend zu meiner Beschäftigung mit meiner Heimatstadt: Im Blog von Anke Gröner stieß ich auf den Hinweis, dass 100.000 Fotos der Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte aus München bei Google Arts and Culture hochgeladen sind. Deshalb suchte ich dort nach Hannover – und entdeckt u.a. ein Foto vom Café Kröpcke von Otto Goetze aus dem Jahr 1869. Ohnehin ist Google Arts and Culture eine wahre Fundgrube – insbesondere wenn man gerade sehr erkältet auf dem Sofa herumliegt.

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Jahresrückblick 2023

Januar
Das Jahr beginnt mit einem Wort, das ich neu lerne: Dauergebäck. Das ist es oft, was ich beim Bäcker am liebsten mag.

In der ersten Staffel von „Only Murders in the Building“ gibt es die wohl lustigste Scrabble-Szene, die ich jemals gesehen habe.

Das Knirschen und Krachen der Häuser und Körper in Megan Abbotts „Aus der Balance“ lässt mich nicht mehr los.

Februar
Ich weine wegen einer Ziege namens Destiny. Verantwortlich: NoViolet Bulawayo in „Glory“

Das Tolle an Freundschaften, die man im Erwachsenenalter schließt: manchmal entdeckt man ungeahnte Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel dass man so gut wie jedes Lied mitsingen kann, das Mary J. Blige in den 1990er Jahren veröffentlicht hat.

Percival Everetts „Die Bäume“ erscheint. Es wird sehr schwer werden, das Buch vom Platz 1 meiner Top-Listen zu verdrängen.

Ausgeprägtes Ross-Thomas-Lesen.

März
Nach über drei Jahren wieder im Theater – Elfriede Jelineks „Angabe einer Person“. Ich lache fast zwei Stunden, zwanzig Minuten lang. So böse, so witzig, so klug. Nur das Ende war ein bisschen drüber.

Mein großes, großes Podcast-Projekt „Auf Weltempfang“ startet.

James Kestrels „Fünf Winter“ erscheint. Kontroverse Meinung: die erste Liebe ist schöner als die zweite.

Nach Ross Thomas‘ „Am Rand der Welt“ erfolgt mein zweiter literarischer Philippinen-Besuch: „Last Call Manila“ von Jose Dalisay. Faszinierendes Land, ich will mehr darüber erfahren.

April
Nina Simones „Little Baby Blue“ am Ende von Saint Omer zerstört mich. Überhaupt: Nina Simone.

„Weißt Du, wer es ist?“ – Kim Koplins „Die Guten und die Toten“ löst ein Pseudonym-Rätseln aus. Viele sagen, Kim Koplin sei eine Autorin. Ich sage: ein Autor. (Aber ich weiß es nicht.)

Neue Nationalgalerie, Kunst der Sammlung 1900-1945. Christian Schad porträtiert 1927 die typische Berlinerin, die den Prototyp der unabhängigen modernen Frau verkörpern soll. Das Bild heißt: Sonja.

NBA-Playoffs: Jimmy Butler wirft 56 Punkte, so dass die auf Platz 8 gesetzten Miami Heat in Führung gegen die auf Platz 1 gesetzten Milwaukee Bucks gehen. Im nächsten Spiel wirft er 0.5 Sekunden vor Schluss zwei Punkte, erzwingt eine Verlängerung und die Heat ziehen in die zweite Runde ein. Nur die Knicks hätten sie nicht unbedingt rauswerfen müssen.

Mai
Ich treffe Leila Aboulela in Frankfurt. Am nächsten Tag besuche ich die Niki Saint-Phalle-Ausstellung in der Schirn.

Mit Marie Vieux-Chauvets „Tanz auf dem Vulkan“ tauche ich in haitianische Geschichte ein – es ist ein Schmöker im besten Sinne: leidenschaftliche Lieben, Gewalt, Tod, Aufopferung und eine differenzierte Darstellung der Gesellschaft vor der haitianischen Revolution.

Mehr Karibik: Mit Astrid H. Roemer geht es nach Suriname. Kolonialgeschichte, Familiengeschichte, Frauengeschichte.

Neue Erfahrungen sind wichtig. Deshalb sitze ich eines Abends in Berlin einer Taiwanischen Tee-Oper.

Juni
Meine erste Begegnung mit Seidenhühnern. Mein Leben wird niemals sein wie vorher. Nun muss ich nur noch jemanden mit Garten überzeugen, sich Seidenhühner anzuschaffen, damit ich sie besuchen und fotografieren kann.

Ich lese Lauren Groff, treffe Lauren Groff, rede über Lauren Groff. Am Ende steht ein Feature über Lauren Groff, das im Juli ausgestrahlt wird.

Jacob Ross‘ „Die Knochenleser“ hat mich schon begeistert, mit „Shadow Man“ legt er mehr als überzeugend nach. Miss Stanislaus ist meine aktuelle Lieblingsermittlerin.

Juli
Premiere von: Abweichendes Verhalten – Der Talk in Berlin. Thomas Wörtche, Matthias Wittekindt und ich schwitzen und schwatzen gemeinsam.

Yasmin Angoes „Echo der Gewalt“ lässt mich im Radio den Satz sagen: „Ihr Name ist Knight, Nena Knight“.

August
Große Werkschau das japanischen Fotografen Daido Moriyama im C/O Berlin – er hat sich viel mit Menschenwürde im Zusammenhang mit Fotografie und Medien auseinandergesetzt und bemerkt zu der Berichterstattung über die Entführung und den Tod eines Kindes: „Der übliche Realismus der Berichte und auch der falsche und naive Humanismus lösen das Problem in keinster Weise.“ Er veröffentlicht stattdessen Standbilder aus dem Fernsehen, die eine kriminalistische Ermittlung andeuten.

Novuyo Rosa Tshumas „Haus aus Stein“ fasziniert mich: sie verbindet die Geschichte einer Familie mit der Geschichte Simbabwes, hinterfragt, weile Rolle historische Narrative für die Identitätsbildung spielen und lässt alles von einem manipulierenden Erzähler erzählen. Klug und komisch.

September
Howard W. Frenchs „Afrika und die Entstehung der Welt“ verrückt mein Bild von der Welt abermals – und lässt mich zum wiederholten Male fragen, wie es sein kann, dass ich trotz ausgeprägten historischen Interesses, trotz Geschichts-LK und Geschichtsstudium so viel nicht wusste.

Victoria Kiellands „Meine Männer“ regt ein erneutes Nachdenken über den medialen Umgang mit Serienmörder*innen an.

Nach Bora Chungs „Der Fluch des Hasen“ betrachte ich meine Toilette mit ganz neuen Augen.

Welch ein Krimi-Monat: Frank Göhres neuer Roman, Regina Nösslers neuer Roman. Monika Geiers neuer Roman. Sara Grans neuer Roman!

Hinsichtlich Fotobearbeitung habe ich dieses Jahr so gut wie alles erreicht.

Oktober
Secessionen-Ausstellung in der Alten Nationalgalerie. Ich bemerke ein neues Interesse an Druckgraphiken und Lithografien. Ich mag neue Interessen.

„Total Trust“ von Jialing Zhang liefert Einblicke in das gegenwärtige Leben in China – und wenn man glaubt, man könnte sich vorstellen, wie das Leben in einem „modernen“ Überwachungsstaat ist, sollte man sich diesen Film anschauen. Man kann es nämlich nicht.

In diesem Haushalt wird die beste zweite Liga aller Zeiten gesehen. Fortuna Düsseldorf liegt am 21.10. zur Pause 0:3 zurück. Endstand 4:3

November
Nach der Munch-Ausstellung in der Berlinischen Galerie kaufe ich mir die Werkausgabe von Dagny Juel. Und zwei Bücher über das Rathenau-Attentat.

Abdelaziz Baraka Sakins „Der Messias von Darfur“ haut mich um – wie klug und böse kann man über Geschichte schreiben! Müsste ich mich auf ein Thema festlegen, das mich in diesem Jahr am meisten beschäftigt hat, dann wäre es die Frage, wie man die Geschichte eines Landes erzählen kann, das von Gewalt, Kolonialismus und Diktaturen bestimmt ist.

Auf einer Veranstaltung fällt das Wort „Wonnegrusel“ – ich weiß leider nicht mehr, wer es sagte – und ich denke, es beschreibt ziemlich gut die Rezeptionshaltung vieler, die Kriminalromane zur Unterhaltung lesen.

Don Mee Chois „DMZ Kolonie” verbindet Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Überlegungen zu Kolonialismus, Korea, Übersetzungen und Sprache. Ein großartiges Buch!

Düsseldorf führt zur Pause 3:0 und gewinnt am Ende knapp mit 5:3. Diese Spiele machen mich fertig. Und ich bin nicht der Fortuna-Fan in diesem Haushalt.

Aki Kaurismäki zeigt mit „Fallende Blätter“, worauf es im Kino wirklich ankommt. Und ich verstehe erstmals einen vollständigen finnischen Satz, gesprochen von einer Finnin (im Kino).

Dezember
Pirkko Saisios „Das rote Buch der Abschiede“ lässt klar erkennen, wie wichtig der Teil Fiktion bei dem Wort Autofiktion ist.

Die zweite Staffel von „Somebody, somewhere“ ist auf andere Weise doch genauso ehrlich, schräg und gemein-liebevoll wie die erste Staffel.

Achtelfinale DFB-Pokal. Es steht in der 90. Minute 1:1. Endstand nach 92. Minuten: 1:2 für Fortuna Düsseldorf. 10 Tage später: Fortuna Düsseldorf liegt zur Pause 0:2 zurück. Endstand: 3:2. Diese Mannschaft. Und manche Menschen fragen sich, warum ich gerne Sport gucke.

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Linksammlung 12/2023

Seit einiger Zeit hadere ich mit sämtlichen sozialen Medien und probiere deshalb verschiedene Dinge aus: von Twitter bin ich seit einiger Zeit weg, bei Instagram mache ich Pause, auf FB und Mastodon bin ich nur noch selten. Damit geht es mir derzeit recht gut, vielleicht lege ich auch auf FB eine längere Pause ein, mal sehen. Mir fehlt dadurch aber ein Ort, an dem ich interessante Links sammele (abgesehen von Pocket) und auch teile – ich bin ja noch in dem Internetalter, in dem man sage „sharing is caring“. Deshalb nehme ich noch einmal einen Anlauf, diesen Blog dazu zu nutzen.

True Crime und Serienkiller
Es scheint wieder die Zeit im Jahr zu sein, in dem sich Menschen mit True Crime beschäftigen – in dem Podcast „Läuft“ spricht Alexander Matzketi mit Torsten Körner, der einige interessante Gedanken zu den Aufgaben der Produktionsseite hat. Durch den Podcast bin ich auf ein Special des Weißen Ring gestoßen, die verschiedene Interviews und Beiträge zu True Crime versammeln (die sind unter dem Beitrag verlinkt).

Außerdem hat die Doku von Regina Schilling über “Aktenzeichen XY” zwei interessante Beiträge hervorgebracht – von Thomas Groh beim Perlentaucher und im CrimeMag macht sich Thomas Wörtche Gedanken über den „Quellcode von True Crime“.

Und in der NYT gibt es ein Porträt der Tochter des B.T.K.-Killers, der auch in „Mindhunters“ eine wichtige Rolle spielt.

Vor etwas längerer Zeit gab es auch um Guardian einen Beitrag über zwei Menschen, die Verbrechen überlebt haben – und dann ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gerückt sind. Weiterlesen

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#Metoo und die Liebe zum Film – Über Winnie M. Lis “Komplizin”

Films were my first love – and they will be my last

Mit ersten Lieben ist es so: sie sind nie ganz vorbei, allen Enttäuschungen und Desillusionierungen zum Trotz. Winnie M Lis Protagonistin und Erzählerin Sarah Lai geht es in „Komplizin“ ähnlich wie mir: Auch ihre große Liebe sind Filme – aber die Realitäten der Filmbranche, das System dahinter haben diese Liebe fast zerstört. Deshalb arbeitet die 39-jährige am Anfang dieses Romans als Dozentin für Drehbuchschreiben an einem Community College in New York. Es ist das Jahr 2017, #Metoo nimmt an Fahrt auf und auch Sarah Lai hat Geschichten, die sie erzählen könnte. Dinge, die sie gesehen hat, die sie erlebt hat – und die sie verschuldet hat.

Films of the future

Sie wartet innerlich regelrecht darauf, dass irgendwann jemand darauf kommt, was vor über zehn Jahren passiert ist. Und dann kontaktiert sie der New-York-Times- Journalist Thom Gallagher. Er will mit ihr über den Produzenten Hugo North reden, mit sie einst gearbeitet hat. Sarah Lai ist nicht überrascht, dass er über North reden will. Sie weiß nur anfangs nicht, wie viel sie ihm erzählen will. Aber dann erzählt sie ihm fast alles: Von ihren Anfänge als unbezahlte Praktikantin bei einer kleinen Produktionsfirma. Von dem harten Kampf für den Debütfilm des Regisseurs Xander Schulz, der glaubt, er sei ein Genie. Von dem Erfolg, wie er alles verändert hat. Und von den Dreharbeiten zu Schulz‘ zweiten Film, an dem Hugo North beteiligt war und der die damals noch unbekannte Schauspielerin Holly Randolph zum Star gemacht hat.

And films of the past

Sarahs Gespräche mit Thom sind der Rahmen ihrer Erzählungen, dazwischen sind kurze Abschriften von Interviews mit anderen Frauen abgedruckt, die an der Produktion des zweiten Films beteiligt waren. Dadurch entwirft Winnie M Li ein Bild der Filmbranche in den USA, das nah an der Wirklichkeit ist: Es geht letztlich nur um Macht und Geld. Sie hat selbst im Filmgeschäft gearbeitet, sie weiß, wie es dort zugeht und das merkt man in den unzähligen kleinen Beobachtungen: wie Fotos von Schauspielerinnen innerhalb von Sekunden aussortiert werden, weil sie nicht heiß genug sind; wie innerhalb einer Sekunde alle Schwarzen Schauspielerinnen aus dem Casting herausfallen, weil der weiße Regisseur die Figur „so“ nicht gesehen hat; wie sich Regisseure als „ally“ positionieren, weil sie niemals Gewalt angewendet haben, aber ihre eigene Teilhabe an einem sexistischen und rassistischen System komplett ausblenden. Dass eine Karriere in der Branche nur selten ohne Verbindungen oder Eltern gelingt, die das Geld haben, ihre Kinder während unbezahlter Praktika zu unterstützten – hier ist Sarah Lai die große Ausnahme, auch weil ihre Eltern chinesische Immigranten sind. Wie eine ganze Branche davon lebt, dass die Menschen, die in ihr arbeiten, schon immer genau davon geträumt haben – und damit niedrige Bezahlungen rechtfertigt. Es gibt Einblicke in das Casting, Dreharbeiten, Produktionsprozesse, Festivals und Preisverleihungen; es geht um den Unterschied zwischen Eisenstein und Tarkowski; über die Schwierigkeiten, eine junge chinesisch-amerikanische Frau als verantwortliche Produzentin anzuerkennen. Es gibt Reflexionen über das Schreiben und das Erzählen im Film. Manche Szenen sind wie für einen Film entworfen – es gibt Rückblenden, geschnittene Einstellungen, neu angesetzte Szenen.

To live without films

Winnie M Li hat auch selbst sexualisierte Gewalt erfahren – davon erzählt sie in ihrem Roman „Nein“ – und sich mit den Folgen auseinandergesetzt. Hier weitet sie diesen Blick auf ein ganzes System. „Komplizin“ macht sehr deutlich, warum ein mächtiger Mann wie Harvey Weinstein so lange mit allem durchgekommen ist – aber auch, warum es nach einigen größeren Enthüllungen deutlich ruhiger geworden ist. Weinsteins Machtmissbrauch hat innerhalb eines Systems stattgefunden, in dem viele Menschen mitbekommen haben, was er macht. Aber in dem es so viele Abhängigkeiten gibt, dass ein Aufbegehren mit großem Risiko verbunden ist. Deshalb schweigen viele Menschen (und schweigen auch weiterhin).

Would be impossible to do

Dazu kommt, dass es weiterhin ausreichend Menschen gibt, die glauben, sexualisierte Gewalt sei ein Teil der Branche, den man hinnehmen muss – sie würden es niemals sexualisierte Gewalt nennen. Für sie sind manche Frauen „Kanonenfutter“, wie sie Sarah Lais an einer Stelle bezeichnet. Es sei etwas, dass vor allem in Hollywood vorkommt. Der Titel „Komplizin“ deutet es schon an: es geht nicht nur darum, dass mächtige Männer ihre Macht missbrauchen, sondern auch dass die wenigen Frauen in der Branche oftmals nicht genau hinsehen, weil sie die Unterstützung dieser Männer nicht verlieren wollen. Sarah Lai ist perfekt positioniert: sie war selbst Anfang 20, als sie in der Produktionsfirma zu arbeiten angefangen hat, sie kämpfte darum, in einem sexistischen und rassistischen Umfeld wahr- und ernstgenommen zu werden. Deshalb rechtfertigt sie kleinere Vergehen, übersieht gewisse Dinge. Aber es kommt unweigerlich zu größeren Vorfällen. Manche Anfängerin werden sexuell ausgebeutet, andere – wie Sarah – werden zur Mitwisserin, zur Unterstützerin dieser Ausbeutung. Und es ist ihre Scham, sind ihre Schuldgefühle, die sie hindern, darüber zu sprechen. Aber das sieht sie erst jetzt mit Ende 30 deutlicher.

In this world of troubles – my films pull me through

„Komplizin“ erzählt davon, wie Frauen an diesem System teilhaben, aber es würdigt auch die Frauen, die sich dagegen gewehrt haben und weiterhin wehren. Dabei geben sich weder Winnie M Li noch Sarah Lai der Illusion hin, dass sich nun fundamental etwas ändern wird. Von Anfang ist klar, wie die Geschichte laufen wird – denn leider haben wir sie schon oft gehört. Aber dass sie erzählt wird, ist ein Anfang. Und dazu passt perfekt die große Desillusionierung, die Sarah Lais Liebe zum Film erlitten hat, die aber nicht dazu geführt hat, dass sie von der Arbeit mit dem Film ganz die Finger lassen konnte. Vermutlich braucht sie einfach nur ein bisschen Zeit, die Liebe zum Film scheint nämlich unverbrüchlich.

Winnie M Li: Komplizin. Übersetzt von Stefan Lux. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp 2023. 475 Seiten. 18 Euro.

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Nachdenken über True Crime

Gelegentlich führe ich Gespräche über True Crime – worüber ich mich immer sehr freue – und wie es bei Gesprächen so ist, komme ich da manchmal auf Überlegungen, die ich vorher für mich so nicht ausformuliert habe, und bei denen ich noch ein bisschen weiter nachdenken möchte. Und dafür gibt es ja diesen Blog.

1. Menschen mögen True Crime, weil es Ordnung in einer unübersichtlichen Welt gibt

Es gibt viele Erklärungen und Hypothesen, warum Menschen True Crime hören – und vermutlich ist es eine Gemengelage aus diesen Ansätzen. Aber ein Aspekt wird meines Erachtens sehr häufig vernachlässigt: True Crime bietet eine Erzählung von einer Welt, die sich nicht verändert. Verbrechen gab es immer und wird es immer geben, egal, was sich sonst verändert. Sogar die Art der Verbrechen, von denen die meisten True-Crime-Erzählungen seit Jahrhunderten handeln, sind gleich geblieben: insbesondere Gewaltverbrechen, insbesondere gegen Frauen und Kinder. Die Erzählungen von diesen Verbrechen geben ihnen eine Struktur und eine Ordnung. Am Ende dann kommt heraus, dass das „System“ doch funktioniert: der Täter wurde gefasst. Dadurch bietet True Crime Sinn bei auf den ersten Blick „sinnlosen“ Taten. Und genau das ist gefährlich: True Crime suggeriert, dass Verbrechen, das Gewalt nicht nur erzählbar ist, sondern man diesen Taten auch einen Sinn verleihen kann. Dabei erzeugen sie nicht nur Angstfantasien und Wahrnehmungen, sondern bestätigen sie auch, also z.B. Frauen sind Opfer, Männer sind Täter.

2. True Crime ist mehr als eine Erzählung von „wahren Verbrechen“

Nicht jeder Artikel, nicht jeder Podcast, der sich mit „wahren Verbrechen“ beschäftigt, ist True Crime. Vielmehr ist True Crime wie ein Label, eine Bezeichnung, mit der bestimmte Erzählungen bezeichnet werden: Erzählungen von wahren Verbrechen, bei denen dokumentarische und fiktionale Mittel verwendet werden und es eine subjektive Erzählinstanz gibt. Außerdem setzt True Crime darauf, Emotionalität zu erzeugen. Durch Erzählstrategien, die Spannung erzeugen – der Täter wird erst am Ende genannt, obwohl es ein „wahres“ Verbrechen ist; durch sprachliche Muster wie „das ist ja schrecklich“, durch Bilder, durch Musik usw.

3. Warum müssen die Verbrechen wahr sein?

An dieser Frage überlege ich schon seit längerem herum – und eine Antwort habe ich bisher nicht gefunden. Sicherlich erhöht die Tatsache, dass diese Taten tatsächlich stattgefunden haben, den Reiz des Spektakels, die Sensationslust, den Voyeurimus, das Gefühl, die Wirklichkeit besser zu verstehen. Aber ist das wirklich so? Oder liefert das häufig genannte soziologische oder psychologische Interesse nicht einfach nur einen akzeptablen Vorwand, seine Neugier zu befriedigen?

4. Warum gibt es True-Crime-Merchandise?

Es gibt immer wieder Dinge, die mich verwundern – mein Lieblingsbeispiel bei True Crime: es gibt zwar in Hamburg Stadttouren zu Fritz Honka, aber Fatih Akin musste ordentlich Kritik dafür einstecken, dass in seiner Verfilmung von „Der goldene Handschuh“ die Morde so unappetitlich waren. Aber dazu kommt ja noch mehr: es gibt Escape-Spiele zu wahren Verbrechen. Es gibt Merchandise-Artikel zu True-Crime-Podcasts. Beispielsweise Socken zu dem „Mordlust“-Podcast oder einen schwarzen Kapuzenpulli mit dem Logo von „Zeit Verbrechen“. Sicherlich bezieht sich das mehr auf die Hosts und das Format als das Verbrechen. Oder vielleicht hoffe ich das auch nur.

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